Vor über zehn Jahren saß ich im Publikum eines europapolitischen Podiums beim Sommercamp der JungdemokratInnen/ Junge Linke. Dort sprach Tobias Pflüger, damals frischgebackener Europaabgeordneter darüber, warum der Entwurf für die EU-Verfassung abzulehnen und die linke „Nein“-Kampagne in Frankreich hingegen zu unterstützen sei. Trotzdem bemühte sich Tobias auf eine Teilnehmerfrage hin zu betonen, müsse Deutschland in der EU bleiben, weil ein auf sich gestelltes Deutschland zu gefährlich für Europa sei, wie die historische Erfahrung zeige. Sieben Jahre später argumentierte der linke Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko ähnlich in einer Runde von LINKE-Mitgliedern, bei der es um den europapolitischen Teil des Erfurter Grundsatzprogramms ging. Die EU sei definitiv neoliberal, undemokratisch und forciere Militarisierung, aber ein Kampf um ihre Auflösung sei dennoch falsch, weil sonst Schlimmeres drohe. Ich wähle hier Tobias und Andrej als „Kronzeugen“, weil an der demokratiepolitischen und anti-neoliberalen Street Credibility der beiden kein Zweifel besteht. Bis Mitte Juli 2015 konnten anti-neoliberale Linke m.E. nur wie eben zitiert begründen, warum man trotz alledem eine linke Politik innerhalb der EU verfolgen möchte. Nachdem von Sonntag auf Montag eine Vereinbarung abgeschlossen wurde, die von Seiten der Geldgeber zum ausdrücklichen Ziel hat, Griechenland zu demütigen, seiner linken Regierung ein deutliches Scheitern beizubringen und die Austerität zu dementieren, muss die Diskussion neu geführt werden.
In der Debatte um das Europawahlprogramm
der LINKEN Anfang 2014 entstand eine aufgeheizte Stimmung. Trotz Eurokrise,
massiver Spardiktate, offensichtlicher Entdemokratisierung und gleichzeitiger
Aufrüstung der EU an ihren Außengrenzen sowie durch Forschungsgelder für
Drohnen u.ä. wurde die Beweislast zuungunsten von denjenigen gedreht, die die
Politik der EU kritisierten. Es wurde von vielen behauptet, es sei ja gar nicht
die EU, die so schlimm sei, sondern nur die Politik der Mitgliedstaaten
verursache den Schaden. Man ist versucht, einige Anträge und Redebeiträge aus
der Schublade zu holen von denjenigen, die damals meinten, die EU als „linkes
Projekt“ schönreden zu können. Doch diese Genugtuung führt kaum weiter –
notwendig ist eine schonungslose Analyse, ob und wie es jetzt überhaupt
weitergehen kann. Es ist keine unglückliche Fügung, dass am Ende der
demütigende Deal für Griechenland herauskam, wie er nun vorliegt. Wie das
„Institut Solidarische Moderne“ richtig festhält, geschah das „nicht aus ökonomischen, sondern allein aus
politischen Gründen: Athen durfte und darf nicht zum Beispiel eines
demokratischen Bruchs mit der Austerität werden, Athen darf kein Beispiel für
Madrid, Dublin, Glasgow, auch nicht für Rom, und Paris werden“.
Alle wichtigen Argumente, mit
denen noch irgendwie für die EU geworben werden konnte, sind jetzt endgültig
hinfällig. Für einen Binnenmarkt braucht es nicht den Überbau einer politischen
Union – dazu reicht auch eine Freihandelszone, worauf die britischen Tories im
Grunde schon immer die EU zurechtstutzen wollten. Es zieht auch das
Friedensargument nicht mehr, denn alle Mitgliedstaaten der EU sind
gegeneinander ohnehin strukturell nicht angriffsfähig. Nach dem Debakel von
Afghanistan-, Irak- und Libyenkrieg wird sich ohnehin sehr lange keine
Regierung mehr trauen, mit Säbelrasseln ihrem Volk gegenüberzutreten. Die EU
war nie ein Träger des sozialen Fortschritts (außer, er war wie
Geschlechtergleichstellung und Antidiskriminierungspolitik kompatibel mit
effizienterer Kapitalverwertung). Nun aber ist endgültig klar, dass die EU ein
Bollwerk gegen sozialen Fortschritt
ist, sie ist genau die „fleischgewordene Höllenmaschine“, die Pierre Bourdieu
immer im Neoliberalismus gesehen hat. In der EU konkurrieren andere politische
Kräfte nicht auf einem neutralen Terrain mit dem Neoliberalismus. Der
Neoliberalismus ist immer mit einem deutlichen Vorsprung ausgestattet, und
inzwischen scheint dieser uneinholbar geworden zu sein.
Die deutsche Linke muss sich nun vor allem damit konfrontieren, dass inzwischen auch das
letzte Argument entfällt, mit dem man in Deutschland „trotz alledem“ eine
grundsätzliche Ablehnung der EU bislang ablehnen konnte.
Wer jetzt noch glaubt, die EU halte Deutschland irgendwie im Zaun, zähme
Deutschland und begrenze seine Macht auf sinnvolle Weise, dem ist nicht mehr zu
helfen. Das Gegenteil ist der Fall. Durch die neoliberalen EU-Verträge wird
Deutschlands wirtschaftliche und politische Macht sogar „gehebelt“. So viel
politische Ökonomie muss sein: Auf deutschen Druck wurde in die Maastrichter
und alle nachfolgenden EU-Verträge geschrieben, dass die Europäische
Zentralbank nicht als „Lender of Last Resort“ auftreten darf – sie darf also (anders als jede andere wichtige Zentralbank der Welt!) nicht für
die Euro-Mitgliedsstaaten einspringen, wenn sie in Liquiditätsprobleme geraten.
Diesen wirtschaftspolitischen Irrsinn haben das Bundesverfassungsgericht und mit
Einschränkungen der Europäische Gerichtshof vor Kurzem nochmals bestätigt.
Damit wird die Macht Deutschlands gleich doppelt zementiert. Zum einen braucht
es erst wegen der begrenzten Möglichkeiten der EZB überhaupt so etwas wie den
Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM), in den die Mitgliedstaaten entsprechend
ihrer Wirtschaftskraft einzahlen. Es ist völlig klar, dass Deutschland als
ökonomisch stärkstes Land hier immer ein Veto-Spieler sein wird, der weitgehend
den Bittstellern die Bedingungen diktieren kann - wie gerade im Falle
Griechenlands geschehen. Zum anderen profitiert Deutschland zusätzlich
wirtschaftlich von der Krise durch rekordmäßig niedrige Anleihezinsen - die
Bundesrepublik bekommt auf den Finanzmärkten das Geld quasi hinterhergeworfen,
sie saniert sich an der Schwäche der Anderen.
Natürlich gab es auch vor dem
Euro eine starke deutsche Dominanz mit der D-Mark als faktischer Leitwährung
auf dem Kontinent. Aber selbst unter diesem „System Tietmeyer“ (benannt nach dem damaligen Chef der Bundesbank) wurde der
Neoliberalismus nicht so rabiat durchgesetzt, waren die Spielräume nicht so
deutlich geschrumpft wie unter dieser EU und ihrer Währungsunion. In allen
EU-Ländern werden Linke (anti-neoliberale SozialdemokratInnen und Grüne
mitgezählt) jetzt diskutieren, was das für ihre künftige Politik bedeutet. Klar
dürfte jetzt sein: Die dringend notwendige Re-Demokratisierung, die nötige radikale
wirtschaftspolitische Umkehr von der Austerität zu einem öko-sozialen Eurokeynesianismus
ist innerhalb dieser EU-Strukturen nicht zu haben. Wenn ein linker Kurswechsel
in Europa mehrheitsfähig würde, bräuchte er in jedem Fall auch supra-nationale
Institutionen, gerade für die Länder, die wirtschaftlich und politisch nicht so
erdrückend stark sind wie Deutschland. Aber aus Sicht einer fortschrittlichen
Politik ist diese EU, die Deutschland „hebelt“, statt es zu zähmen, und die das Spielfeld immer deutlicher zugunsten des Neoliberalismus kippt, keine
geeignete Plattform. Diese EU ist ein Käfig, aus dem es auszubrechen gilt.
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