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Donnerstag, 11. Dezember 2014

Wer ist »die Wirtschaft«?

Dieses Zitat von der heutigen FAZ-Titelseite bringt mich zum Nachdenken:

»In der Debatte über den wirtschaftspolitischen Leitantrag gestand der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Lämmel ein, die Union habe in der gemeinsamen Regierung mit der SPD „doch einige Belastungen für die Wirtschaft konstruiert“ – er nannte Mindestlohn, Rentenbeschlüsse und das Familiengeld Plus –, die jetzt „wieder korrigiert werden“ müssten. Der Unionsfraktionsvorsitzende Volker Kauder sagte, nach den sozialpolitischen Beschlüssen, etwa zur Mütterrente, müsse es „jetzt auch einmal gut sein“; jetzt müssten „die Interessen der Wirtschaft im Vordergrund stehen“.«

Es ist die Rede von »der« Wirtschaft. Gemeint ist aber: »die Unternehmen«, noch genauer: »die einzelwirtschaftliche Perspektive der Unternehmen«. Die wirklich banale Tatsache, dass die Beschäftigten den mit Abstand allergrößten Teil der Erwerbstätigen UND der KonsumentInnen ausmachen, eben »der« Wirtschaft, scheint sich der CDU niemals aufzudrängen. Das galt übrigens 1:1 auch für Gerhard Schröder, der den Bruch mit sämtlichen SPD-Wahlversprechen von 1998 begründete mit dem dekretmäßig verkündigten Dogma: »eine Wirtschaftspolitik gegen die Wirtschaft ist mit mir nicht zu machen«. Man bemerke: gesagt wird »die« Wirtschaft, gemeint ist wieder die mikroökonomische Perspektive der Unternehmensleitung. Ab 2003 kam dann noch zur Legitimation der »Agenda 2010« die empirisch niemals stichhaltige Behauptung vom nicht wettbewerbsfähigen »Standort Deutschland« hinzu.
Ich hab neulich ein ganzes Buchkapitel darüber geschrieben, dass in Deutschland die Mehrheit der Leute mit außenwirtschaftlichen Fragestellungen kaum in Berührung kommen und zugleich unbewusst eher einer neoklassisch gefärbten Sicht auf den Arbeitsmarkt zustimmen. In dieser Sicht kann man einen Mindestlohn tatsächlich nur rechtfertigen als sozial- und gerechtigkeitspolitische, aber niemals als wirtschaftspolitisch sinnvolle Maßnahme (aller empirischen Evidenz über unzureichende Lohnsteigerungen, gesunkene Tarifbindung und stagnierende Binnennachfrage zum Trotz). Aber demokratiepolitisch noch erheblicher scheint mir zu sein, dass wenn von »die Wirtschaft« die Rede ist, im Grunde immer »die Arbeitgeber« bzw. »die Einzel-Unternehmen« gemeint sind.
-Denn was, wenn irgendwann der Tarifvertrag wieder unter Beschuss gerät, weil »die Wirtschaft« es so will? Oder die Mitbestimmung? Was, wenn die Werkverträge auch die nächsten Jahre weiter missbraucht werden können, weil »die Wirtschaft« für den gegenteiligen Fall den Untergang des Abendlandes an die Wand malt? Es ist, als hätten die Leute das grundlegende Arrangement des Kapitalismus (die kollektiv erwirtschafteten Werte werden rechtlich sanktioniert vom Produktionsmittelbesitzer angeeignet, die Lohnabhängigen müssen 'ihren Anteil' zurück-erstreiten) bis zum Geht-nicht-weiter verinnerlicht.

Selbst wohlmeinende Linke gehen diesem Hegemonie-Effekt auf den Leim, wenn sie »dem Volk« ausgerechnet »die Wirtschaft« gegenüberstellen (siehe Foto).
Achtung, ein Müsst-i-zysmus: Eigentlich müsste man vor dem CDU-Parteitag demonstrieren für einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel, mit dem Motto: »DIE WIRTSCHAFT« SIND WIR!

Zum Schluss Antonio Gramsci (denn Marxisten müssen immer mit einem Zitat schließen, das sie besonders klug aussehen lässt):
»Die Philosophie der Praxis... ist nicht das Regierungsinstrument herrschender Gruppen, um den Konsens zu haben und die Hegemonie über subalterne Klassen auszuüben; sie ist der Ausdruck dieser subalternen Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die unerfreulichen...«.

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