Dieses Zitat von der heutigen FAZ-Titelseite bringt mich zum Nachdenken:
»In der Debatte über den wirtschaftspolitischen Leitantrag gestand der
CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Lämmel ein, die Union habe in der
gemeinsamen Regierung mit der SPD „doch einige Belastungen für die
Wirtschaft konstruiert“ – er nannte Mindestlohn, Rentenbeschlüsse und
das Familiengeld Plus –, die jetzt „wieder korrigiert werden“ müssten.
Der Unionsfraktionsvorsitzende Volker Kauder sagte, nach den
sozialpolitischen Beschlüssen, etwa zur Mütterrente, müsse es „jetzt
auch einmal gut sein“; jetzt müssten „die Interessen der Wirtschaft im
Vordergrund stehen“.«
Es ist die Rede von »der« Wirtschaft.
Gemeint ist aber: »die Unternehmen«, noch genauer: »die
einzelwirtschaftliche Perspektive der Unternehmen«. Die wirklich banale
Tatsache, dass die Beschäftigten den mit Abstand allergrößten Teil der
Erwerbstätigen UND der KonsumentInnen ausmachen, eben »der« Wirtschaft,
scheint sich der CDU niemals aufzudrängen. Das galt übrigens 1:1 auch
für Gerhard Schröder, der den Bruch mit sämtlichen SPD-Wahlversprechen
von 1998 begründete mit dem dekretmäßig verkündigten Dogma: »eine
Wirtschaftspolitik gegen die Wirtschaft ist mit mir nicht zu machen«.
Man bemerke: gesagt wird »die« Wirtschaft, gemeint ist wieder die
mikroökonomische Perspektive der Unternehmensleitung. Ab 2003 kam dann
noch zur Legitimation der »Agenda 2010« die empirisch niemals
stichhaltige Behauptung vom nicht wettbewerbsfähigen »Standort
Deutschland« hinzu.
Ich hab neulich ein ganzes Buchkapitel
darüber geschrieben, dass in Deutschland die Mehrheit der Leute mit
außenwirtschaftlichen Fragestellungen kaum in Berührung kommen und
zugleich unbewusst eher einer neoklassisch gefärbten Sicht auf den
Arbeitsmarkt zustimmen. In dieser Sicht kann man einen Mindestlohn
tatsächlich nur rechtfertigen als sozial- und gerechtigkeitspolitische,
aber niemals als wirtschaftspolitisch sinnvolle Maßnahme (aller
empirischen Evidenz über unzureichende Lohnsteigerungen, gesunkene
Tarifbindung und stagnierende Binnennachfrage zum Trotz). Aber
demokratiepolitisch noch erheblicher scheint mir zu sein, dass wenn von
»die Wirtschaft« die Rede ist, im Grunde immer »die Arbeitgeber« bzw.
»die Einzel-Unternehmen« gemeint sind.
-Denn was, wenn
irgendwann der Tarifvertrag wieder unter Beschuss gerät, weil »die
Wirtschaft« es so will? Oder die Mitbestimmung? Was, wenn die
Werkverträge auch die nächsten Jahre weiter missbraucht werden können,
weil »die Wirtschaft« für den gegenteiligen Fall den Untergang des
Abendlandes an die Wand malt? Es ist, als hätten die Leute das
grundlegende Arrangement des Kapitalismus (die kollektiv
erwirtschafteten Werte werden rechtlich sanktioniert vom
Produktionsmittelbesitzer angeeignet, die Lohnabhängigen müssen 'ihren
Anteil' zurück-erstreiten) bis zum Geht-nicht-weiter verinnerlicht.
Selbst wohlmeinende Linke gehen diesem Hegemonie-Effekt auf den Leim,
wenn sie »dem Volk« ausgerechnet »die Wirtschaft« gegenüberstellen
(siehe Foto).
Achtung, ein Müsst-i-zysmus: Eigentlich müsste man vor dem
CDU-Parteitag demonstrieren für einen radikalen wirtschaftspolitischen
Kurswechsel, mit dem Motto: »DIE WIRTSCHAFT« SIND WIR!
Zum Schluss Antonio Gramsci (denn Marxisten müssen immer mit einem Zitat schließen, das sie besonders klug aussehen lässt):
»Die Philosophie der Praxis... ist nicht das Regierungsinstrument
herrschender Gruppen, um den Konsens zu haben und die Hegemonie über
subalterne Klassen auszuüben; sie ist der Ausdruck dieser subalternen
Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die
daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die
unerfreulichen...«.
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